Euer Land ist auch nicht eures
- Joost Schloemer
- vor 1 Tag
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Euer Land ist auch nicht eures – Europas Rückforderung und die Abrechnung mit der Besitzlogik
Es begann wie so vieles in der Ära Donald Trump
Mit einer scheinbar absurden Idee, die sich nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis tilgen ließ. Grönland, so verkündete der damalige US-Präsident 2019, solle amerikanisch werden. Ein „großartiger Deal“. Wegen Rohstoffen. Wegen Militärbasen. Wegen der Lage.
Die Welt lachte – und vergaß, dass diese Logik tödlichen Ernst hat: Wer Land denkt wie Eigentum, denkt wie ein Kaiser. Oder wie ein Kreuzzügler.

Doch was, wenn Europa zurückdenkt?
Was, wenn der Kontinent, der sich jahrhundertelang für die moralische Wiege der westlichen Welt hielt, sich seiner Rolle in der Entstehung Amerikas neu bewusst wird – nicht um zu erobern, sondern um zu erinnern? Nicht um Grenzen zu verschieben, sondern um Geschichte sichtbar zu machen?
Denn Amerika ist kein Naturprodukt.
Amerika ist ein europäisches Werkstück. Geformt von Seefahrern, Auswanderern, Theologen, Revolutionären, Brauern und Bischöfen. Die Liste beginnt bei Leif Eriksson, dem nordischen Seefahrer, der um das Jahr 1000 die Küsten Neufundlands betrat – Jahrhunderte vor Kolumbus. Sie führt über Amerigo Vespucci, Giovanni Caboto (John Cabot), Jacques Cartier bis zu den Habsburgern, Bourbonen, Plantagenets. Amerika war ein Projektionsraum für europäische Sehnsüchte – und später für europäische Schuld.
Und die Schuld beginnt mit dem Besitz.
Als Kolumbus 1492 die Bahamas erreichte, legte er nicht nur eine Flagge in den Sand. Er legte den Grundstein für eine Vorstellung, die bis heute nachwirkt: dass Land einnehmbar ist. Dass Territorium zur Verfügung steht. Dass fremde Völker Besitzlosen gleichzusetzen sind. Dieses Denken führte zu Missionierung, Versklavung, Landnahme – und zu jener Form der Weltordnung, die Donald Trump mit seiner Grönland-Fantasie unfreiwillig reaktivierte.
Doch die Besitzkette geht weiter – auch im Positiven.
Millionen Europäer migrierten im 18. und 19. Jahrhundert nach Amerika: Deutsche aus der Pfalz, Iren aus Cork, Italiener aus Neapel, Polen aus Schlesien. In Milwaukee, St. Louis, Cincinnati, Pittsburgh bauten sie Kirchen, Brauereien, Schulen, Druckereien. Sie gründeten „Vereine“, ein typisch deutsches Sozialphänomen, das sich im US-amerikanischen Vereinswesen niederschlug. Über 2.000 deutsch-amerikanische Clubs existieren bis heute – Zeugen einer transatlantischen Alltagskultur.
Franz Daniel Pastorius, der 1683 Germantown bei Philadelphia gründete. Levi Strauss, geboren als Löb Strauss in Buttenheim, der die Jeans zur globalen Uniform machte. Wilhelm Rittenhausen, der die erste Papiermühle Nordamerikas betrieb.
Und Peter Muhlenberg, General in der Kontinentalarmee und lutherischer Prediger – dessen Bruder angeblich im Kongress die Abstimmung über Deutsch als US-Amtssprache herbeigeführt haben soll. Ein Mythos? Vielleicht. Aber einer mit Kernwahrheit: Deutsch war über Jahrhunderte hinweg die zweithäufigste Sprache in den Vereinigten Staaten.
Diese Verwurzelung ist nicht marginal. Sie ist strukturell. Und sie ist kirchlich zementiert.
Am 8. Mai 2025 wurde Robert Francis Prevost – gebürtig in Chicago, jahrzehntelang Bischof in Peru, nun mit doppelter Staatsbürgerschaft – zum 267. Papst gewählt: Leo XIV. Ein Mann, der die atlantische Achse nicht nur biografisch, sondern spirituell verkörpert. In seiner ersten Enzyklika betont er, dass „Verantwortung immer aus Herkunft erwächst“. Eine versteckte Botschaft? Vielleicht. In Washington wurde sie als solche verstanden.
Denn während Trump erneut laut denkt – diesmal über die militärische Sicherung von Grönland –, überarbeitet Europa sein Selbstbild. Nicht als Mahner. Sondern als Eigentümer von Geschichten, die zu lange von anderen geschrieben wurden.
Trump selbst – Enkel des deutschen Auswanderers Friedrich Trump aus Kallstadt – steht emblematisch für die paradoxe Umkehrung: Der Mann, dessen Vorfahren einst aus Deutschland ausgewiesen wurden, weil sie dem Militärdienst entgingen, tritt heute auf wie ein Feudalherr. Der Mann, dessen Familie sich in den USA mit Barbierläden, Bordellen und Immobilien emporarbeitete, will Länder kaufen wie Hotels.
Und Europa?
Europa antwortet nicht mit Waffen. Es antwortet mit Archiven.
In Wien, Berlin, Straßburg, Krakau und Gent werden Kirchenbücher digitalisiert. Schiffslisten entziffert. Briefe transatlantischer Auswanderer übersetzt.
Man spricht leise – aber bestimmt – von „kultureller Restitution“, von „ethischer Rückbindung“ und „narrativer Gleichstellung“. Keine Gebietsansprüche. Aber ein Recht auf Mitsprache, wenn die Weltgeschichte neu geschrieben wird.
Wenn Putin mit alten Karten die Ukraine zerschneidet, wenn China mit historischen Küstenlinien Seegebiete beansprucht, wenn Trump Grönland „erwirbt“ – dann darf Europa nicht länger schweigen. Nicht, weil es erben will, was war. Sondern weil es verteidigen muss, was wirklich ist: eine zivilisatorische Verpflichtung.
Amerika war nie nur amerikanisch. Es war immer auch europäisch. Nicht besessen – aber geprägt. Und wer diese Prägung leugnet, macht denselben Fehler wie die, die Grönland kaufen wollen: Sie verwechseln Land mit Wahrheit.
Was Europa heute fordert, ist kein Stück vom Kontinent. Sondern ein Stück vom Narrativ. Ein Sitz am Tisch, wenn über Geschichte gesprochen wird. Über Zukunft. Über Besitz. Über Verantwortung.
Denn Besitz ist ein gefährliches Wort. Es klingt wie Frieden – aber meint immer auch Macht.
Europa will nichts besitzen. Es will, dass man sich erinnert.
Daran, dass Amerika auch ein Kind dieses Kontinents ist.
Daran, dass Migration nicht bloß Bewegung war – sondern Aufbau.
Daran, dass Geschichte nicht vergeht, nur weil man sie ignoriert.
Und darum beginnt dieser Essay mit einem Satz, der schwerer wiegt, als er klingt:
Euer Land ist auch nicht eures.
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